Plattformarbeit im Wandel der Arbeitswelt
„Plattformarbeit ist bisher eher ein Randphänomen“, sagte Dr. Lisa Allegra Markert von Bitkom im Rahmen einer Anhörung im Bundestag zum Status von Plattformarbeit im November 2020. Fahrradkuriere sind aus unseren Städtebildern nicht mehr wegzudenken. Lieferando.de, die Nummer 2 der am meisten genutzten Plattformen in Deutschland, konnte im Jahr 2020 rund 112 Millionen Bestellungen verzeichnen. Durch die Pandemie als Digitalisierungs-Treiber profitierte die Plattformarbeit und ist durch eine Aussage von Hubertus Heil am vergangenen Donnerstag wieder in aller Munde.
Heil sprach sich auf einem Treffen der EU-SozialministerInnen in Luxemburg für einheitliche Mindeststandards bei digitaler Plattformarbeit aus. Digitalisierung dürfe nicht mit Ausbeutung verwechselt werden, so Heil mit Blick auf Liefer- oder Fahrdienste. Aus diesem Grund unterstütze er den Gesetzgebungsentwurf der EU-Kommission, durch den Plattform-Beschäftigte künftig besser abgesichert werden müssen. Der Entwurf reglementiert primär den Beschäftigtenstatus und stellt hierzu die Vermutung auf, die auf Plattformen arbeitenden Personen seien abhängig beschäftigt. So könnten rund 2,7 Millionen in Deutschland von ArbeiterInnen wie Arbeitnehmer eingestuft werden und etwa Anspruch auf Mindestlohn und geregelte Arbeitszeiten haben.
Die Bedeutung digitaler Plattformen für die Arbeitswelt wird immer größer. Das erkennt auch der Koalitionsvertrag der Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP an. Die konstruktive Begleitung der Arbeit der EU-Kommission zur Plattformarbeit wurde bereits seitens der Koalition angekündigt.
Wie facettenreich die aktuelle Situation für Plattform-Beschäftigte wirklich ist, zeigt die aktuelle Studie der Stiftung Bertelsmann. Ausgehend davon wird in diesem Beitrag die Bedeutung von Plattformarbeit für die Arbeitswelt und die aktuelle Situation in Deutschland skizziert, der mögliche (unions-)rechtliche Rahmen für die Lösungsgestaltung beleuchtet und ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung gewagt.
Was ist Plattformarbeit
In der wissenschaftlichen Diskussion gilt Plattformarbeit als Oberbegriff für verschiedene neue Beschäftigungsformen. Man unterscheidet zwischen ortsgebundener und nicht ortsgebundener Plattformarbeit sowie unterschiedlich komplexen Aufgaben. Im Kern ist Plattformarbeit ein „Brückenbau“. Digitale Plattformen bringen AuftraggeberInnen mit potenziellen Arbeitskräften zusammen, die Dienstleistungen für sie erbringen.. Dem Leistungsspektrum sind dabei keine Grenzen gesetzt. Die Dienstleistungen können lokal (Gigwork) oder online (Cloudwork) verrichtet werden. Kleinteilige, einfache Arbeiten werden im Zusammenhang mit dem Crowdworking auch als “Mikrotasks”, komplexe und vielschichtige Tätigkeiten als “Makrotasks” bezeichnet. Die Grenzen zwischen Online- und Offlinearbeit verlaufen grundsätzlich fließend.
Bedeutung der Plattformarbeit für die Arbeitswelt
In der sich wandelnden Arbeitswelt stellt die Plattformarbeit einen wichtigen und notwendigen Bestandteil dar, dessen Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt weiter zunehmen wird. Plattformarbeit ermöglicht Chancen auf beiden Seiten: Für die Plattformbeschäftigten ist es eine günstige Gelegenheit, sich ohne große Mühen und ortsunabhängig einen einfachen Einstieg in neue Einkommensfelder zu erschließen. Unternehmen als AuftraggeberInnen können Plattformarbeit nutzen, um interne Kapazitäten zu schonen oder anderweitig zu nutzen und Aufträge flexibel zu vergeben. Eine vermeintliche Win-win-Situation auf beiden Seiten.
Aktuelle Situation der PlattformarbeiterInnen in Deutschland
Fast 40 Prozent der Befragten sind mit den aktiv genutzten Plattformen nicht zufrieden. Neben den Vorteilen wiegen auch die Nachteile schwer:
- Fehlende soziale Absicherung
- Häufig unbezahlter, zusätzlicher Arbeitsaufwand
- Konkurrenzkampf durch die Vielzahl an PlattformarbeiterInnen
- Unklare Regelungen bei Streitigkeiten mit Auftraggebern
- Geringer Schutz gegen unfaire Behandlung durch Auftraggeber
- Unfaire und unzureichende Entlohnung
- Ständige Verfügbarkeit
Ein Zustand, der für eine Win-Lose-Situation sorgt: Ein Win für AuftraggeberInnen und ein Lose für für PlattformarbeiterInnen. Ein Zustand, der geändert werden muss und bei dem vor allem der (deutsche) Gesetzgeber gefragt ist.
Der mögliche unionsrechtliche Lösungsweg
Durch den am 09. Dezember 2021 veröffentlichten Richtlinienvorschlag (Entwurf einer Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit vom 9.12.2021 (V-RL PFA)) will die EU-Kommission durch europäische Mindeststandards die Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten verbessern.
Dienstleistungen, die im Rahmen von Plattformarbeit erbracht werden, erfolgen oftmals ohne den unmittelbaren (Vertragsanbahnungs-)Kontakt zwischen Dienstleister und Dienstleistungsempfänger und werden meist auf Grundlage von Algorithmen vergeben und bei der Ausführung gesteuert. PlattformarbeiterInnen sind formell selbstständig. Dadurch besteht die große Gefahr, dass arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Mindeststandards nicht zur Anwendung kommen oder nur schwer durchsetzbar sind. Um dies in Zukunft zu vermeiden, sollen durch die neuen Vorgaben möglichst einheitliche Kriterien für die Unterscheidung zwischen selbständiger und unselbständiger Beschäftigung gesetzt werden.
Ein Abwarten auf einen möglichen unionsrechtlichen Lösungsweg wird nicht dem Koalitionsslogan „Mehr Fortschritt wagen“ gerecht. Die europäische Vollharmonisierung des Rechts darf kein Grund für das Abwarten des deutschen Gesetzgebers sein.
Lösungen aus gesellschaftlicher und politischer Sicht
Das Thema Plattformarbeit lässt sich nicht nur eindimensional betrachten.
„Gegenseitiges Ausbieten“ und prekäre Lohnverhältnisse infolge des Wettbewerbsdrucks müssen unterbunden werden. Ein genereller kultureller Wandel, bei dem mehr gegenseitige Akzeptanz und Verständnis aufgebaut wird oder auch die politische Förderung von Arbeitsplattformen, die von PlattformarbeiterInnen selbst betrieben werden, sind keine realistischen Lösungsansätze. Für die Politik umsetzbar ist dagegen ein Mindestlohn für digitale ArbeitnehmerInnen.
Der fehlenden sozialen Absicherung kann durch eine „Transformationssicherung“ in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens, eine „Sozialkasse“ oder auch Anreize für eine schnellere Festanstellung begegnet werden.
Auch unabhängig von der EU-Initiative hat der deutsche Gesetzgeber einigen Handlungsspielraum, um die Zukunft der Plattformarbeit erfolgreich zu gestalten.
Plattformarbeit im Wandel der Arbeitswelt – ein Zukunftsausblick
42 Prozent der Cloud- und Gigworker geben an, dass sie sich diese Arbeitsform auch in der Zukunft als Bestandteil ihres beruflichen Werdegangs vorstellen können. Plattformarbeit wird im Rahmen der digitalen Transformation der Arbeitswelt weiter an Bedeutung gewinnen. Gerade jetzt am Anfang dieser Entwicklung müssen die Weichen richtiggestellt werden, um gleichermaßen den Schutzaspekten der PlattformarbeiterInnen und der unkomplizierten Nutzung von innovativen Einkommensmöglichkeiten gerecht zu werden. Die grundsätzliche Richtung der Plattformarbeit ist derzeit noch offen und die Machtverhältnisse zwischen Unternehmen und PlattformarbeiterInnen sind noch veränderbar. Wir können darüber entscheiden, ob Plattformarbeit durch aktives Gestalten ein nachhaltiges, förderndes oder einseitiges, benachteiligendes Modell digitaler Arbeit wird.